16. Eduard und Peter – Rungholt

Seit ein paar Tagen hatten die Freunde nichts von Ida, der Scholle, gehört. Allerdings war das Wetter auch nicht besonders gut gewesen, es hatte oft stark geregnet und auch einmal einen schweren Sturm gegeben. Sogar Emma, die Möwe, hatte nichts von Ida gehört und gesehen, obwohl sie eigentlich überall herumkam und ihr nichts entgehen konnte.

Ein schöner Tag hatte schließlich begonnen. Die Sonne schien, ein paar Wolken zogen über den blauen Himmel und so hatten Eduard und Peter es sich vor ihren Türen im flachen Wasser gemütlich gemacht. Einen kleinen Schlammleckerbissen vor sich genossen sie den Vormittag. Wattwürmer haben ja auch nicht besonders viel zu tun, wenn sie nicht gerade Eduard und Peter heißen. Die „normalen“ Würmer machen nichts anderes, als den Schlamm vor dem Eingang ihrer Wohnröhre aufzusaugen und aus dem Hintereingang den Rest in kleinen Sandwürstchen herauszuschieben.

Eduard und Peter aber hatten Eingangstüren aus Muschelschalen und gemütliche, saubere Wohnröhren als Wohnung. Ja, sie hatten sogar ein paar Seeanemonen überredet, vor ihren Eingängen kleine Blumengärtchen einzurichten, in dem sie sich auf Wellhornschnecken-Häuser gemütlich eingerichtet hatten. In einige dieser Häuser waren Untermieter eingezogen, Einsiedlerkrebse, die die Gärtchen sauber hielten. Dazu gehörte auch ihr Freund Schnapp.

 Für den Eßschlamm hatten die beiden sich kleine Gruben ausgebuddelt, in denen sich bei Flut leckere Köstlichkeiten sammelten. Hier bedienten sie sich gerade, als die bekannte platte Gestalt der Scholle Ida auftauchte.

„Ida! Wir haben dich schon vermißt, wo bist du solange gewesen?“ fragte Peter.

„Ich habe einen langen Ausflug nach Süden gemacht, sagte Ida, „ und was glaubt ihr, habe ich gefunden?“

„Erzähl! Erzähl!“ riefen Eduard und Peter.

„Also, das Wasser war ziemlich flach und da sah ich auf einmal Töpfe im Watt,“ erzählt Ida, „ und dann ragten Balken aus dem Sand. Dass war wohl mal ein Schiff gewesen. Jetzt war es nur noch ein Haufen Balken und Ballaststeine. Die Steine brauchten die Segelschiffe früher, damit sie bei Sturm nicht umkippten. Ich bin dann näher heran geschwommen und fand daneben lauter Mauersteine und Nägel und sogar Teile von einem Sessel! Vielleicht war das einmal ein Hafen gewesen.“

„Da müssen wir unbedingt hin,“ rief Peter, „ Da gibt es bestimmt interessantes zu finden!“

„Hm,“ sagte Emma, die Möwe, „ ich saß einmal auf einem Geländer da drüben am Strand und hörte Menschen zu, die ein Stück Papier in den Händen hielten, „Die erzählten sich von einer versunkenen Stadt draußen im Watt, die bei einer Sturmflut vor ein paar hundert Jahren zerstört wurde. Die soll Rungholt geheißen haben und bei Nordstrand gelegen sein.“

„Das müssen wir uns unbedingt ansehen,“ rief Schnapp, der aufgeregt zugehört hatte, „da gibt es bestimmt etwas zu finden!“

Die Freunde beschlossen, gleich am nächsten Morgen los zu ziehen, damit sie bei Niedrigwasser in Rungholt ankommen konnten.

***

Ida war früh gekommen, auch Emma hockte schon im Sand neben den Wohnröhren von Eduard und Peter. Die hatten bereits gut gefrühstückt und stiegen sich auf Idas Rücken. Schnapp setzte sich zwischen Emmas Flügel und los ging es.

Nach einer Stunde waren sie an der Stelle angekommen, von der Ida berichtet hatte. Schollen schwimmen nicht ganz so schnell wie Möwen fliegen können.

Sie fanden auch gleich das Wrack und die Gegenstände, die zeigten, dass hier früher, vor der Großen Sturmflut, Menschen gewohnt hatten.

Emma hatte gleich noch etwas entdeckt. „Kommt hier herüber,“ rief sie, „hier ist noch ein Wrack!“

Schnell schwamm Ida zu ihr hinüber. Tatsächlich, ein ziemlich großes Schiff war dieses Wrack einmal gewesen. Das Wasser war tief genug, dass Ida in den Schiffsraum schwimmen konnte. Emma mußte leider draußen bleiben, da sie nicht lange unter Wasser sein konnte.

Es war ziemlich düster im Bauch des Wracks, aber sie konnten allerlei Dinge erkennen, die am Boden lagen. Schuhe zum Beispiel oder einen alten Südwester, einem wasserfesten Wetterhut aus geteertem Stoff.

In einer Ecke ragte der obere Teil einer Kiste aus dem Wattboden. Neugierig schwammen sie hinüber und fanden einen eisenbeschlagenen Kasten. Der Deckel ließ sich nicht öffnen.

„Wir brauchen jemand kräftiges, der uns helfen kann,“ meinte Eduard, „Wißt ihr jemanden?“

„Vielleicht kann ich helfen,“ brummte eine Stimme aus der dunkelsten Ecke.

„Wer bist du?“ fragte Ida.

Aus der Ecke schwamm ein ….. Oktopus heran. Er besah sich aufmerksam die Kiste und sagte dann: „Ich bin Karl und wohne hier.“

„Ich kann die Kiste so auch nicht öffnen, da sie abgeschlossen ist. Aber da ist ein Schlüsselloch. Vielleicht können die Wattwürmer da hindurch schlüpfen und nachsehen, wie das Schloß funktioniert?“

„Kein Problem,“ sagten die beiden und einer nach dem anderen schlüpften sie durch das Schlüsselloch in die Kiste.

Hier drinnen war es noch dunkler, aber Würmer können im Dunkeln recht gut sehen, damit sie sich in ihren Röhren zurecht finden.
An der Vorderwand war eine sehr komplizierte Angelegenheit, das Kistenschloß. Eigentlich war es für schwache Würmer nicht zu schaffen, das Schloß zu bewegen, aber Peter entdeckte einen kleinen Hebel, den er ausprobieren wollte. Beide stemmten sich mit aller Macht dagegen. Es knackte und obwohl es so lange im Wasser gelegen hatte, sprang das Schloß auf.

Karl, der Oktopus, klappte den Deckel auf und schaute zu ihnen herab.

„Was ist denn das da, „ fragte er und griff mit einem seiner acht Arme in die Kiste. Er zog ein bräunliches Bündel heraus. Als er es auf dem Boden ausgebreitet hatte, war ein Kleidungsstück zu erkennen, ein mit Gold geschmückter Mantel.

„Das ist bestimmt ein Königsmantel, „ meinte Emma, die ja alles wußte. „Hoffentlich ist den Menschen an Bord nichts passiert!“ sorgte sich Schnapp.

„Wir haben hier nichts Schlimmes gefunden, die Seeleute sind wohl alle gerettet worden. Was machen wir mit dem Mantel?“

„Wir legen ihn neben das Wrack, hier kommt nämlich immer ein Archäologe vorbei, der alte Dinge finden möchte,“ meinte Karl, der Oktopus.

Das taten sie dann auch. Und tatsächlich fand der Archäologe den Mantel am nächsten Tag und brachte ihn ins Museum auf der Insel Texel in den Niederlanden.
Dort könnt Ihr ihn auch anschauen, wenn ihr einmal hinkommt.

VAB  05 - 07/2020