24. Eine Muschel auf Reisen

Wenn man als Muschel geboren wird, kann man sich das Reisen nicht vorstellen. Eine Muschel schlüpft aus ihrem Ei, schwimmt ein bisschen herum und setzt sich dann irgendwo fest, wo schon andere Muscheln sind. Da bleibt sie dann. Für immer.

Bei Helene lief das anders. Als Muschelbaby hatte sie sich bei Eduard und Peter Schutz gesucht. Aber nun wollte sie sich an etwas besonders Großem festsetzen und war dabei an eine Meeresschildkröte geraten. Riesig war die, ihr Hülle war nicht aus Stein, sondern etwas anderem, etwas weicheren, das aber sehr bequem zu bewohnen schien.

Helene klebte erstmal ihren Fuß mit Klebefäden auf dieser Hülle fest, sehr fest, denn sie wäre sonst von den Wellen gleich heruntergespült worden. Und dann „sah“ sie sich um.

Muscheln können nicht sehen, denn das brauchen sie auch nicht; sie spüren nur ungefähr, was um sie herum so vorgeht. Sie schlürfen Wasser ein, sieben das Schmackhafte heraus und spucken den Rest aus. Das war es, mehr passiert bei einer Muschel normalerweise nicht.

Helene reichte das nicht, sie wollte genauer herausfinden, was um sie herum los war. Einer ihrer Fühler hatte eine Idee und dachte laut: ”An meiner Spitze habe ich ein paar neugierige Zellen, die können Licht und Dunkel, Rot und Blau unterscheiden. Da mache ich noch eine Menge Zellen dazu und schon haben wir ein - Auge, so habe ich das genannt. Das kann dir zeigen, was rundherum passiert.”

Das funktionierte sehr gut und Helene staunte, was sie zu sehen bekam. Nach einer ganzen Weile war ihr das nicht genug. Sie hatte gemerkt, dass sie auf einem großen Wesen saß und hätte gern mit dem ihre Erlebnisse ausgetauscht. „ Hat jemand von euch Fühlern eine Idee, wie ich mit dem großen Ding unter mir sprechen kann? ” dachte sie.

Ein paar der Fühler konnten verschiedene Töne erzeugen und taten sich zusammen, um gemeinsam Worte zu bilden. Das nannten sie dann - Mund. Ein paar andere Fühler konnten diese Töne fühlen und verbanden sich zu einem - Ohr.

„ Wie praktisch, „ dachte Helene und rief mit ihrem neuen Mund: „ Du Große, kannst du mich hören? Wo schwimmst du hin? Wie heißt du?”

Ein riesiger Kopf an einem langen Hals drehte sich nach ihr um. „Ich bin die Meeresschildkröte Sarah. Ich schwimme zur Insel Island, da gibt es leckeres Seegras und warmes Wasser!“ brummte es. „Eine Muschel, die sprechen kann? Gibt es doch eigentlich nicht. Naja, muss los, ich habe keine Zeit zu verplempern.“

Die nächsten Minuten, Stunden, Tage flogen vorüber. Das kleine, winzig kleine Muschelgehirn konnte die vielen Eindrücke gar nicht verdauen, es ging einfach viel zu schnell.

Endlich schwamm die Schildkröte langsamer und sah sich um. Der Meeresgrund unter ihr war von saftigem Seegras bedeckt, das Wasser war, naja, warm - sie mußte bei der Insel Island angekommen sein. Sie machte sich ruhig daran, das Seegras abzuweiden.

Auch Helene konnte die Pause gut brauchen und schlürfte das Wasser um sie ein. Viel Gutes war darin, kleine Krebse und bunte Algen.

Ein großer dunkler Schatten zog über sie hin. Sarah wendete ihren langen Hals und blickte nach oben : „Oh, Ricarda, schön, dass du da bist. Habe dich lange nicht gesehen!”

„Hallo Sarah, ich war gerade in Neufundland, als ich dich hierher schwimmen gehört habe,” dröhnte eine unglaublich tiefe Stimme, „mein neues Kalb Richard ist bei mir und möchte dich kennenlernen.“

„Was ist das denn für ein riesiges Wesen?“ piepste Helene.

„Das ist eine Blauwal-Kuh, meine Freundin Ricarda.“ brummte Sarah.

Helen sah nach oben und bemerkte einen riesigen Körper und daneben einen etwas kleineren.

Ein unglaublich großes Auge blickte erst sie, dann Sarah an.

„ Ich habe mich mit meiner Herde in der Antarktis ganz im Süden verabredet. Du musst doch zum Eierlegen in die Karibik, das liegt auf halbem Weg. Da können wir ein Stück zusammen schwimmen. ”

„Gerne,“ antwortete die Schildkröte, „ ich muß nur noch eine ordentliche Portion Seegras fressen, danach kann es losgehen.“

Aber auf einmal rumpelte es furchtbar, der Meeresboden schüttelte sich und aus dem Schlamm stiegen dicke Blasen auf: ein Erdbeben!

Sarah tauchte auf und sah sich um. Ein großer Berg am Ufer, ein Vulkan, stieß dicke Rauchwolken aus, dann flogen glühende Brocken hoch in die Luft. Kurz danach quollen glühende Lavaströme den Hang hinab auf sie zu und stürzten über das Ufer in das aufschäumende Wasser. Es dampfte und sprudelte so sehr, dass sie schnell weiter nach draußen auf die See hinaus schwimmen mußten.

Sarah suchte sich eine andere Seegraswiese in sicherer Entfernung und futterte sich richtig satt. Der Weg in die Karibik bei Amerika ist ein paar tausend Kilometer lang.

Am nächsten Tag ging es los. Sarah mit Helene und Ricarda mit Richard an der Seite schwammen nach Süden. Zuerst ging es einen Tag lang gemütlich voran. Aber dann hörte Helene zwitschernde Laute in der Nähe. Ricarda rief :” das sind Orcas, die bedrohen mein Kalb Richard!” Sie stieß ein sehr lautes tiefes Brummen aus, um andere Wale zur Hilfe zu rufen. Wale können sich über sehr große Entfernungen unterhalten.

Da waren die Orcas heran, zwei ziemlich junge, die noch keine Erfahrungen mit Blauwalen gemacht hatten. Sie kamen unvorsichtig zu nahe und Ricarda schlug mit ihrer Schwanzflosse nach ihnen. Beide taumelten zurück, halb betäubt. Sarah schwamm schnell zu dem einen hin und biß ihn mit ihren starken Kiefern in die Nase.

Die Orcas erholten sich wieder und griffen neu an. Der eine blutete ziemlich an der Nase und war etwas vorsichtiger. Der andere wollte Richard beißen und bekam von Sarah einen Schlag mit der riesigen Schwanzflosse verpaßt.

Helene hörte auf einmal quietschende Laute und da waren drei kleinere Wale da. Zwei nahmen das Kalb in die Mitte und der dritte ging zusammen mit Ricarda und der Schildkröte auf die Orcas los. Noch ein paar kräftige Stöße und Schläge, und die Orcas flüchteten.

Alle ruhten sich an der Oberfläche aus. Helene war das alles zu aufregend. Muscheln sind solche Aufregungen nicht gewohnt und sie sehnte sich nach Hause, nach Amrum. Und sie hatte Glück.

Ein Schwarm Möwen dümpelte neben ihnen im Wasser.
Helene rief: „fliegt von euch jemand nach Amrum?“

Eine Möwe antworte: „Ich bin Emma, nachher will ich nach Amrum zurück. Du kannst gerne mitkommen, dann habe ich etwas Gesellschaft.“

Helen nahm Abschied von Sarah und den Walen. Dann löste sie ihren Fuß vom Rücken der Schildkröte und ließ sich auf Emmas Rücken setzen. Emma verabschiedete sich von den Freundinnen  und beide flogen hoch über den weiten Atlantik nach Osten, Richtung Amrum. Zwei Tage später kamen sie auf der Insel an. Dort setzte Helene sich zufrieden auf einem Stein neben Peters Eingang zu seiner Wohnröhre fest. Und da blieb sie dann.

Muscheln sind einfach nicht besonders abenteuerlustig. Einmal im Leben etwas Spannendes zu erleben, das genügt ihr völlig.

VAB 210824